zwitschern – tschurr zwi – zwigetschurn
In neuhochdeutscher Zeit bleibt die Gruppe der starken Verben nicht nur unproduktiv – sie geht sogar zurück. So ist zu beobachten, dass ehemals starke Verben in die Klasse der schwachen Verben oder Mischverben übergehen (z.B. backen: backte für buk; saugen: saugte für sog; fragen: fragte für frug; melken: melkte für molk). Es besteht aber kein Grund zur Sorge, dass die starken Verben ganz verschwinden könnten, da sie zentrale Bereiche unseres Wortschatzes abdecken. Und nicht zuletzt wacht auch die „Gesellschaft zur Stärkung der Verben“ über ihren Bestand.
Die Gesellschaft zur Stärkung der Verben Die Gesellschaft zur Stärkung der Verben versteht sich als „Anlaufstelle für schwache und geknochtene Verben aller Sprachen“ und stellt einen humorvollen Versuch dar, neue unregelmäßige Verben einzuführen. Der Kern ihrer Arbeit besteht darin, regelmäßige Verben kreativ zu stärken, wie die folgenden Beispiele demonstrieren sollen.
Infinitiv – Präteritum – Partizip
arbeiten – bitt ar – argebitten
baden – bud – gebaden
bügeln – bulg – gebulgen
donnern – durnn – gedurnnen
erklären – erklur – erkluren
hindern – harnd – gehornden
lächeln – lielch – gelilchen
melden – mald – gemolden
nähen – nand – genanden
nützen – nuß – genussen
parken – purk – gepurken
quasseln – quolß – gequolßen
tanzen – tunz - getunzen
umzingeln – umzalng – umzolngen
zwitschern – tschurr zwi – zwigetschurn
Tipps:
Werner König: „dtv-Atlas Deutsche Sprache“;
Helmut Glück/Wolfgang Sauer: „Gegenwartsdeutsch“;
http://verben.texttheater.de
Noch einmal Agonie
„Noch haben wir […] diese „Möglichkeitsform“, den Konjunktiv, und können auf diese Weise unterscheiden zwischen dem, was wirklich ist, und dem, was geschehen könnte. Aber in hundert Jahren werden wir diesen Unterschied nicht mehr machen können, denn der Konjunktiv […] stirbt langsam aus.“ Diesen (zu frühen) Abgesang stimmte Ludwig Reiners 1943 in seiner „Stilkunst“ an. Mehr als die Hälfte der prognostizierten hundert Jahre sind schon vergangen und weder ein plötzliches Ableben noch ein langsames Siechtum unseres Konjunktivs ist zu befürchten.
Veränderung statt Tod
Stattdessen wandelt er sich in seiner Form und in seinen Funktionen. Häufiger als früher werden die Konjunktiv II-Formen mit „würde“ gebildet. Der Grund dafür liegt einerseits darin, dass diese Form ökonomischer (leichter zu bilden) ist und andererseits klingen Formen wie „beföhle, flöhe, bewöge, schmölze, verhülfe“ usw. recht antiquiert.
Hochburgen des Konjunktivs
Das derzeit wichtigste Anwendungsgebiet des Konjunktivs ist die Nachrichtensprache, die sich mit seiner Hilfe in der indirekten Rede vom Gesagten distanziert. Mit der Verwendung der Konjunktivformen soll eine Aussage nur wiedergegeben werden – eine Gewähr für ihre Richtigkeit ist nicht inklusive. Inwiefern Leser und Hörer die Signale bei Verwendung des Konjunktivs wahrnehmen, ist eine andere Frage.
Sie trennt sich, sie trennt sich nicht
Eines der spitzfindigsten Themen der deutschen Grammatik ist jene Gruppe von Verben, die trennbar und zugleich untrennbar sind. „Umfahren“ ist ein solches Verb und gleich wie die anderen Verben dieser Gruppe verfügt es je nach (Un-)Trennbarkeit über verschiedene Bedeutungen: Wird es untrennbar gebraucht („ich umfahre etwas“) bedeutet es, dass man um etwas außen herumfährt. In der trennbaren Variante („ich fahre etwas um“) bringt man mit seinem Fahrzeug etwas zu Fall. Das ist sprachlich ein kleiner, inhaltlich jedoch ein immenser Unterschied, vor allem wenn man das für die Beispielphrasen gebrauchte „etwas“ durch konkretere Objekte ersetzt. Ein weiteres Beispiel ist „durchschauen“. Die trennbare Variante („Er schaut durch den Spalt.“) wird im konkreten Sinn gebraucht, die untrennbare („Er durchschaut seinen Kollegen.“) im übertragenen Sinn.
Allgemein gibt es sechs Vorsilben, die sich in Verbindung mit Verben unentschlossen zeigen: durch-, über-, um-, unter-, wider- und wieder-. Bei den trennbaren Formen liegt die Betonung auf der Vorsilbe und die ursprüngliche Bedeutung der Präposition (= Vorsilbe) bleibt weitgehend erhalten (‘untertauchen, ‘umwerfen). Die untrennbaren Varianten verlangen eine Betonung des Verbstamms und werden meist im übertragenen Sinn verwendet (z.B. unter’brechen, unter’suchen).
Wir trennen, also sind wir!
Womit kann man jedem Deutschlerner ein gequältes Stöhnen entlocken? Richtig! Mit den trennbaren Verben! Wie zu jeder Besonderheit der deutschen Sprache äußerte sich Mark Twain in seinem Aufsatz „Die schreckliche deutsche Sprache“ auch zu diesem sprachlichen Phänomen: „Die deutsche Grammatik ist übersät von trennbaren Verben wie von den Blasen eines Ausschlags; und je weiter die zwei Teile auseinandergezogen sind, desto zufriedener ist der Urheber des Verbrechens mit seinem Werk.“
Zur Untermauerung bringt er folgendes Zitat: „Da die Koffer nun bereit waren, REISTE er, nachdem er seine Mutter und Schwester geküsst und noch einmal sein angebetetes Gretchen an den Busen gedrückt hatte, die, in schlichten weißen Musselin gekleidet, mit einer einzigen Teerose in den weiten Wellen ihres üppigen braunen Haares, kraftlos die Stufen herab gewankt war, noch bleich von der Angst und Aufregung des vergangenen Abends, aber voller Sehnsucht, ihren armen, schmerzenden Kopf noch einmal an die Brust dessen zu legen, den sie inniger liebte als ihr Leben, AB.“
Im Dschungel der Vorsilben
Es gibt genaue Regeln darüber, welche Vorsilben trennbar (z.B. ab-, an-, aus-, bei- … abfahren, ankommen, aussteigen, beistehen … Der Zug fährt in drei Minuten ab.) und welche untrennbar (z.B. be-, emp-, ent-, er- … befragen, empfinden, entschließen, ertragen … Der Polizist befragt den Zeugen.) sind. Daneben gibt es eine Reihe von Verben, deren Vorsilben sowohl trennbar als auch untrennbar sind (z.B. umfahren, durchbrechen usw.). Diese Verbgruppe ist so interessant, dass ihr demnächst ein eigener Artikel hier im Wunderland Deutsch gewidmet werden soll.
Wie das Präsens immer mächtiger wird
Die Tempusformen des Deutschen sind sehr flexibel und stimmen mit den ihnen zugewiesenen Zeitstufen (Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft) nicht immer überein: Die Verhältnisse sind bei weitem nicht so geordnet, wie die Termini Präteritum, Präsens, Futur usw. suggerieren. Die grammatischen Tempusformen sind mehrdeutig und entsprechen nicht sechs einfachen Zeitbedeutungen. Am deutlichsten zeigt sich dies beim heutigen Gebrauch des Präsens, das ein besonders großes Tätigkeitsfeld aufweist:
10 Anwendungen des Präsens
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Gegenwart: Sie liest ein Buch.
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Wiederholung: Sie kommt jeden Tag um sechs Uhr nach Hause.
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Zukunft (statt Futur I): Sie fährt morgen nach Frankfurt.
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Vermutung: Wahrscheinlich kommt sie zur Party.
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Dauer: Die Donau fließt ins Schwarze Meer.
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Allgemeingültigkeit: Geld ist ein wertvoller Rohstoff.
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Aufforderung (statt Imperativ): „Du kommst jetzt sofort her!“
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historisches Präsens: Am 14. Juli 1789 beginnt der Sturm auf die Bastille.
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registrierendes Präsens: 1543 – Kopernikus‘ Weltbild erscheint in gedruckter Form.
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In der Zukunft abgeschlossene Handlung: Sie kommt gleich wieder zurück.
Aus für das Futur I?
Die Präsensformen untergraben v.a. den Wirkungsbereich des Futur I. In den meisten Fällen, in denen etwas Zukünftiges ausgedrückt werden soll, findet das Präsens samt Zeitangabe (morgen, nächste Woche, bald) Anwendung. Das Futur I wird deshalb nicht verschwinden. Es ist jedoch eine Entwicklung in Richtung modaler Bedeutung erkennbar (z.B. Sie wird später wohl die Bäckerei übernehmen).
Die schwierigsten Grammatikthemen - Prolog mit Mark Twain
Es ist wahr, dass die deutsche Sprache nicht zu den einfach zu erlernenden Sprachen zählt. Sie hat durchaus ihre Raffinessen und Stolpersteine und bereitet so manchem Lerner erhebliche Schwierigkeiten. Aber nur selten verleiht jemand dem Ärger über diese Schwierigkeiten so laut und vehement Ausdruck wie Mark Twain in seinem Aufsatz „Die schreckliche deutsche Sprache“, der mit der Erkenntnis endet, dass die "deutsche Sprache sanft und ehrfurchtsvoll zu den toten Sprachen gelegt werden" solle, "denn nur die Toten haben die Zeit, diese Sprache zu lernen".
Deutsch in 30 Jahren
Zu diesem Schluss kam er auf Grund seiner philologischen Studien, die ihn davon überzeugten, „dass ein begabter Mann Englisch (ausgenommen Rechtschreibung und Aussprache) in dreißig Stunden lernen kann, Französisch in dreißig Tagen und Deutsch in dreißig Jahren."
Was Mark Twain am schrecklichsten fand
Im Folgenden findet sich eine Zusammenstellung jener Aspekte der deutschen Sprache, die Mark Twain am schrecklichsten zu sein schienen.
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Die Suche nach dem richtigen Kasus (am meisten machte ihm der Dativ zu schaffen) verglich er mit der vergeblichen Suche nach einem Ararat, die im Treibsand endet.
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Die deutschen Sätze bezeichnete er als „erhabene und ehrfurchtsgebietende Kuriosität“, hasste ihre Parenthesen, Unterparenthesen, Überparenthesen und Hauptparenthesen und forderte einfache und geradlinige Erzählungen.
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Ein besonderes Ärgernis waren ihm die „Verbhäufungen“ am Ende von Sätzen („haben sind gewesen gehabt haben geworden sein“).
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Die trennbaren Verben sah er als „Blasen eines Ausschlags“, von denen die deutsche Grammatik übersät sei.
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Im deutschen Genussystem erkannte er keinen Sinn und kein System und empfahl eine Reorganisation desselben „entsprechend dem Willen des Schöpfers“.
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Zur Adjektivdeklination merkte er folgendes an: „Wenn ein Deutscher ein Adjektiv in die Hände kriegt, dekliniert er es und dekliniert es immer weiter, bis der gesunde Menschenverstand ganz und gar herausdekliniert ist.“
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Die Komposita waren ihm ob ihrer schweren Verständlichkeit ein besonderer Dorn im Auge. Er bezeichnete sie als „alphabetische Prozession“ und unterstellte manchen von ihnen so lang zu sein, dass sie eine Perspektive aufweisen.
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Den Sinn und das System der Satzklammer konnte er nicht nachvollziehen und forderte, das Verb so weit an den Anfang des Satzes zu schieben, dass es mit bloßem Auge leicht zu erkennen sei.
Literaturtipp: Mark Twain „Die schreckliche deutsche Sprache“
Als die deutsche Sprache mehrdimensional wurde
Die deutsche Sprache kannte lange nur zwei Tempusformen: Präsens und Präteritum. Wenn man Zukünftiges ausdrücken wollte, gab man dies entweder mit Hilfe von Präsensformen oder mit Umschreibungen („wollen“, „sollen“) wieder. Erst zur Zeit des Humanismus (15./16. Jahrhundert) wurde die Sechsergliederung des deutschen Tempussystems (Plusquamperfekt, Präteritum, Perfekt, Präsens, Futur I, Futur II), angelehnt an das Lateinische, eingeführt. Nun setzte sich auch das Futur I, wie wir es heute kennen („werden“ + Infinitiv) durch.
Eine neue Dimension
Das Aufkommen dieser Tempusformen steht für den Sprachhistoriker Fritz Tschirch sogar in engem Zusammenhang mit einer "neuen Dimension der Wirklichkeitswahrnehmung": Das Deutsche sei dadurch von einer bloß flächigen zu einer räumlichen Darstellung der Vorgänge in Leben und Welt durchgedrungen.
Buchtipps: Fritz Tschirch: „Geschichte der deutschen Sprache“, Band 2; Peter Braun: „Tendenzen in der deutschen Gegenwartssprache“
Die „Zaubertricks“ der deutschen Verben
In kaum einer anderen Sprache sind die Verben derart wandlungsfähig wie im Deutschen. Bei ihren „Zaubertricks“ assistieren ihnen Vorsilben verschiedenster Art, die die Bedeutung des Grundverbs nicht selten gänzlich verändern. Mit ihrer Hilfe können Sachverhalte präziser ausgedrückt und eleganter formuliert werden. Es gibt Verben, die Verbindungen mit einem ganzen Heer von Vorsilben eingehen können und jedes Mal ändert sich die Bedeutung.
Besonders wandlungsfähige Verben
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gehen: Spontan fielen mir elf mögliche Vorsilben für das Verb gehen ein – mit einer Liste von Vorsilben wurden es bedeutend mehr (wahrscheinlich sind mir trotzdem einige Möglichkeiten entgangen [womit auch gleich eine Verbform mit „gehen“ verwendet wurde]): angehen, aufgehen, ausgehen, begehen, durchgehen, eingehen, einhergehen, entgegengehen, entgehen, ergehen, fortgehen, heimgehen, heruntergehen, hervorgehen, hinaufgehen, hinausgehen, hineingehen, hintergehen, hinuntergehen, losgehen, mitgehen, nachgehen, niedergehen, übergehen, umgehen, umhergehen, untergehen, vergehen, vorbeigehen, vorgehen, weggehen, zergehen, zugehen, zurückgehen
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fallen: Nicht so vielseitig wie gehen, aber dennoch beeindruckend: abfallen, anfallen, auffallen, ausfallen, befallen, durchfallen, entfallen, gefallen, hinfallen, herunterfallen, hinausfallen, hinunterfallen, missfallen, niederfallen, überfallen, umfallen, verfallen, vorfallen, zerfallen, zufallen, zurückfallen, zusammenfallen
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stehen: abstehen, anstehen, aufstehen, ausstehen, beisammenstehen, beistehen, bereitstehen, bestehen, dastehen, einstehen, entstehen, erstehen, gestehen, hervorstehen, herumstehen, missverstehen, nachstehen, verstehen, vorstehen, wegstehen, zurückstehen, zustehen
Damit aber noch nicht genug der Bedeutungsvielfalt: viele dieser Wörter haben nicht nur eine, sondern zwei oder mehrere Bedeutung. So kann beispielsweise untergehen im Sinne von „das Schiff geht unter“, „die Sonne geht unter“ als auch im Sinne von „er hatte das Gefühl, in der Menge unterzugehen“ gebraucht werden. Ähnlich verhält es sich mit vorgehen, das wie in „Lass mich bei dieser gefährlichen Tour vorgehen!“ oder wie in „Die Gesundheit muss vorgehen“ gebraucht werden kann.
Falls Ihnen noch weitere besonders „trickreiche“ Verben einfallen, freue ich mich über Ihre Vorschläge!